Anders als in Rio erwartet der Flintenschütze Andreas Löw in Tokio nicht allzu viele interessante Begegnungen und fokussiert sich ganz auf seinen Wettkampf

WIESETH, GERDie Männer im Häuschen hinter der Wurfscheibenanlage schauen erstaunt auf, als ein Fremder nach Andreas Löw fragt. „Der is’ in Dokio“, sagt einer. Das ist einerseits nachweislich falsch, weil Löw gerade eben ein paar Meter weiter mit einer Kaffeetasse in der Hand aus der Gaststätte tritt, in gewisser Weise aber auch sehr richtig.

Gedanklich befindet sich Andreas Löw schon seit einiger Zeit in Tokio. Genaugenommen seit jenem Tag Anfang Juni, als er in einem Hotelzimmer in Osijek saß und mit feuchten Händen das Finale der Europameisterschaft verfolgte. Das nahm genau den Verlauf, der nötig war, damit der Weihenzeller auf den letzten Drücker über die Weltrangliste noch ins Starterfeld für die Olympischen Spiele rutschte. Der Jubel im deutschen Lager war groß.

Bei Olympia geht es beileibe nicht nur ums Dabeisein, es geht um Arbeitsverträge für Trainer und Athleten, um Förderung, um Geld und Auskommen. Ein Sportschütze kann x–mal Welt- und Europameister werden. Erst wenn eine Medaille mit den fünf Ringen um seinen Hals hängt, hat er die Chance, halbwegs prominent zu werden.

In der geräumigen Gaststätte des JSSV Herrieden-Wieseth wischt Löw auf dem Smartphone ein Foto von der Asaka Shooting Range her, aufgenommen bei trübem Wetter. Man sieht einen offenbar künstlichen blaugrauen Bodenbelag. „Was ist, wenn die Sonne scheint und der Boden das Licht reflektiert? Gut möglich, dass man davon beim Zielen gestört wird“, sagt Löw. Eine dieser vielen Kleinigkeiten, die bei engen Entscheidungen enorme Bedeutung bekommen können.

Kein Weltcup vor den Spielen

Oft wird vor den Spielen ein Weltcup auf der Olympiaanlage geschossen. Wäre das auch in Japan möglich gewesen, wüssten die Schützen nun, was sie erwartet. Sie wüssten, ob der Boden die Sonne reflektiert, welche Wurfmaschinen verbaut sind, wären mit den Gegebenheiten vertraut.

Seit rund 25 Jahren betreibt Löw das Wurfscheibenschießen als Leistungssport. Er kennt die Stände zwischen

Lathi in Finnland und Al Ain in den Emiraten. Er war in Korea, Mexiko und Nordamerika. In Japan war er noch nie. Man merkt, dass ihn das beschäftigt, diese Reise ins Ungewisse.

Dieser Tage ist Löw für einen kurzen Zwischenstopp nach Hause gekommen. Hat trainiert in Italien, wie so oft. Jetzt gilt es, letzte Vorbereitungen zu treffen. Dennoch ist Zeit, beim Heimatverein vorbeizuschauen, wo am Ende einer Schotterpiste im Wald zwischen Deffersdorf und Forndorf Zeitungsartikel über ihn im Schaukasten hängen. Bevor er für den Reporter ein paar Scheiben schießt, noch die Frage aller Fragen: Was erwartet er von sich in Tokio?

Löw schau ernst und antwortet mit dem Bild einer Treppe. Stufe eins: Er ist dabei. Stufe zwei: Er erzielt ein Resultat, das seinem Leistungsstand entspricht und ist unter den Top Ten. Stufe drei: Er kommt ins Finale. Stufe vier: Er schießt um die Medaillen. Bei jeder Stufe ist nun Feuerwerk in wachsender Intensität mitzudenken, das seinen Gefühlshaushalt abbildet. „Stufe vier, das wäre Boooom“, sagt Löw jetzt und macht dabei das Geräusch einer enormen Explosion.

Auf Stufe eins bis drei war er schon einmal.

Mit Rekord ins Finale von Rio

August 2016, Rio de Janeiro. Bei seinen ersten Spielen schießt Löw im Vorkampf Olympischen Rekord im Doppeltrap und zieht als Führender ins Finale ein. Es ist kühl und regnerisch, als im Deodoro Olympic Park die Medaillen vergeben werden. Löw trifft nicht mehr so zuverlässig wie in der Qualifikation und verpasst den Kampf um Bronze um eine Scheibe.

Weil Doppeltrap aus dem Olympischen Programm gestrichen wurde, schießt Löw mittlerweile Trap. Dass er es in der Schwesterdisziplin prompt wieder in die Weltspitze geschafft hat, macht ihn stolz. Er musste sich einen etwas anderen Ablauf angewöhnen. Was auch wie eine dieser vielen Kleinigkeiten aussieht, wird ungeheuer wichtig, wenn wie so oft eine einzige Scheibe den Unterschied macht zwischen Spitzenplatz und unter ferner liefen. Löw geht davon aus, dass man in Tokio 120 Scheiben, vielleicht sogar 122 treffen muss, um ins Finale zu kommen. Er hat das drauf. Aber alle anderen auch. „Für mich gibt es keinen Favoriten. Alle, die es nach Tokio geschafft haben, sind Kandidaten für das Finale“, sagt Löw.

Die Spiele in Rio hat Löw drei Wochen lang genossen. Er hat bei anderen Sportarten zugeschaut, ist mit Usain Bolt Aufzug gefahren, hat ein Selfie mit Martin Kaymer gemacht und ist Boris Becker über den Weg gelaufen. Vorfreude auf Tokio? In Spurenelementen. Im Moment empfindet er die Vorbereitungen als „Stress, Stress, Stress“. Dabei geht es gar nicht um den Sport. Es sind die vielen Formulare, die Tests, die Anordnungen und Vorschriften. Dabei ist, wer regelmäßig mit Waffen im Gepäck auf Flughäfen auftaucht, in dieser Hinsicht ja einiges gewöhnt. In Russland mussten sie einmal Formulare in Kyrillisch ausfüllen, es dauerte fünf Stunden, bis sie die Einreise hinter sich hatten.

Aus Tokio wird berichtet, dass zwischen Landung und Ankunft im Olympischen Dorf schon mal acht Stunden vergehen.

Ein Souvenir aus Wuhan

So wie es im Moment ausschaut, wird Löw auch nicht viel von der 14-Millionen-Stadt mitbekommen, wird nicht mit hunderten, manchmal tausenden anderen über die berühmte Kreuzung in Shibuya laufen, wird kein Wasser am Meiji-Schrein in Harajuku trinken und sich nicht im Neonreklame-Dschungel von Shinjuku fragen, ob die blinkenden fremden Schriftzeichen das neue In-Restaurant oder eine skurrile Dienstleistung junger Frauen in kurzen Faltenröcken bewerben.

„Das werden ganz andere Spiele als Rio. Aber ich habe mir vorgenommen, mich von den Umständen nicht unterkriegen zu lassen“, sagt Löw.

Bei den Spielen trifft sich die Jugend der Welt – diesmal halt mehrfach getestet und abgeschottet in einer Blase und dabei kritisch beäugt von der japanischen Öffentlichkeit. Der Aufenthalt wird so kurz gehalten wie nur möglich. Löw fliegt am 21. Juli hin und am 30. schon wieder zurück. Die Spiele als Kurztrip.

Der Kaffee ist leer und eigentlich auch alles gesagt. Jetzt soll die Waffe sprechen. Einer der Aufkleber auf dem Koffer mit der Flinte drin zeigt chinesische Schriftzeichen. Der ist aus Wuhan (ja, genau), wo Löw im Herbst 2019 bei den Sommerspielen der Sport-Soldaten aktiv war. Es folgt bitteres Lachen über den Witz, dass der Aufkleber hoffentlich das einzige Souvenir aus der Stadt in China war, die heute jeder als Ausgangspunkt der Pandemie kennt.

Löw steckt seine Flinte zusammen, packt zwei Schachteln Munition in die Weste, drückt dem Gast einen Gehörschutz in die Hand, reiht sich auf dem Stand bei den anderen ein und taucht ab. So jedenfalls wirkt es. Platz einnehmen, Laden, Scheibe abrufen, Zielen, Schießen – viele hunderttausend Mal hat Löw das schon gemacht.

Nach dem Schuss regnet es orange Splitter

Während der ritualisierten Abläufe wirkt Löw, der sonst so gerne und kundig über seinen Sport erzählt, unnahbar und unendlich fokussiert. Dass der Reporter ihm mit seinen Foto-Gerätschaften, kleinen und großen Objektiven zwischendurch ganz schön auf die Pelle rückt, ist völlig egal. Jedes Mal, wenn Löw den Schaft an die Backe drückt und den Abzug betätigt, regnet es draußen auf der Wiese orange Splitter.

Beim Schuss passiert Folgendes: Das Pulver befördert mehrere hundert kleine Bleikugeln aus dem Lauf. Die fächern sich zu einer Garbe von etwa 60 Zentimeter auf. Einige dieser Kügelchen treffen in gut 30 Metern Entfernung die etwa elf Zentimeter große, aus einem Harz-Kreide-Gemisch gefertigte Scheibe von der Form eines Suppentellers. Die rotiert so stark, dass es sie durch jede kleine Beschädigung regelrecht zerreißt. Zwischen Zielen und Abziehen liegen bei Löw nur Sekundenbruchteile.

Am Ende der Runde leuchtet die 25 auf der Trefferanzeige. Besser geht es nicht. Fünf solcher Serien in Tokio und Löw wäre sicher im Finale.